Alinghi steht erneut am Fuss des Everest, geht die Mammutaufgabe diesmal allerdings zusammen mit Red Bull an. Am 14. Dezember 2021 ergriff Ernesto Bertarelli in der Société Nautique de Genève im Beisein der nationalen und internationalen Presse das Wort und setzte der unerträglichen Spannung ein Ende. «Wir haben die Idee nie aufgegeben, eines Tages zurückzukehren. Nun sind wir bereit», verkündete er. Seit Bertarelli und sein Team Schweizer Sportgeschichte geschrieben haben, ist die Alinghi-Euphorie nie ganz verflogen.

Text: Quentin Mayerat

Monatelang hat sich der zweifache Sieger des America’s Cups mit cleveren Schachzügen langsam nach vorne gearbeitet. Als er am 14. Dezember 2021 die Bombe platzen liess, bereitete er der Spannung endlich ein Ende. Wirklich überraschend kommt sein Comeback allerdings nicht, man hatte schon lange gemunkelt, dass er etwas im Schilde führt. Alinghi Red Bull Racing stösst als einziger Neuzugänger zu den bereits gemeldeten Emirates Team New Zealand (Defender), INEOS Britannia (Challenger of Record), American Magic und Luna Rossa. Mit der Ankündigung zündete Ernesto Bertarelli einen Countdown, der dem Syndikat ein höllisches Tempo abverlangt. Um 2024 wettbewerbsfähig zu sein, muss es in Rekordzeit eine Unmenge Arbeit bewältigen und Herausforderungen logistischer, technologischer und personeller Natur meistern. Alinghi steht vor einem Berg von Aufgaben. Der Gipfelsturm auf den Everest, wie der America’s Cup auch genannt wird, hat es in sich.

EINDRÜCKLICHE ENTWICKLUNG: VON DEN LEGENDÄREN CLASS AMERICA’S BIS ZU DEN AC75 HAT DER SEGELSPORT BEEINDRUCKENDE
VERÄNDERUNGEN DURCHGEMACHT, DIE BEGEISTERUNG FÜR DIE ÄLTESTE SPORTTROPHÄE DER MODERNE IST ABER GEBLIEBEN

Unerwartete Allianz

Der Schulterschluss von Red Bull und Alinghi hat so manchem vermeintlichen Hellseher den Wind aus den Segeln genommen. Als Hans-Peter Steinacher an der Medienkonferenz neben Ernesto Bertarelli auftrat, ging ein Raunen durch den Saal. Der Überraschungsgast besiegelte feierlich die neue Partnerschaft. Ohne den neuen Verbündeten könnte Alinghi wohl kein weiteres Kapitel Segelgeschichte schreiben. Der österreichische Doppel-Olympiasieger und Red-Bull-Vertreter kam natürlich nicht mit leeren Händen. Zusätzlich zu den finanziellen Mitteln bringt die Marke mit dem Stierlogo die Expertise der Red Bull Advanced Technologies Unit ein, die beim jüngsten Erfolg in der Formel 1 eine zentrale Rolle spielte. Ihr Beitrag könnte entscheidend sein. Das Rückgrat des Segelprojekts bilden aber die Ressourcen von Alinghi, das über das nötige Know-how für eine erfolgreiche Kampagne verfügt.

Alinghi Red Bull Racing wird sein Hauptquartier in den Räumlichkeiten der Werft Décision in Ecublens (VD) bei Lausanne aufschlagen. Die operative Spitze wird von drei Co-Direktoren gebildet. Der Italiener Silvio Arrivabene ist für die technischen, Pierre-Yves Jorand für die sportlichen und Michel Hodara für die geschäftlichen Belange zuständig.

DIE SCHLÜSSELFIGUREN VON ALINGHI RED BULL RACING (V.L.N.R.): PIERRE-YVES JORAND (SPORTDIREKTOR), SILVIO ARRIVABENE (TECHNISCHER DIREKTOR), BRYAN METTRAUX (SEGLER), ARNAUD PSAROFAGHIS (SEGLER), BRAD BUTTERWORTH (BOARD MEMBER), HANS-PETER STEINACHER (RED BULL, BOARD MEMBER), ERNESTO BERTARELLI (PRÄSIDENT

Hinter den Kulissen

inen Monat nach der offiziellen Bekanntgabe der Kampagne konnten wir uns bei Alinghi mit Silvio Arrivabene unterhalten. In der Werft, den Büros und den Sitzungsräumen herrscht Normalbetrieb, momentan verrät nichts, dass hier gerade etwas Grosses entsteht. Weit und breit kein AC75 im Infusionsverfahren! Silvio Arrivabene ist ein alter Bekannter. Er hatte als Construction & Planning Manager an der Alinghi V für den 33. America’s Cups mitgearbeitet und war zuletzt Mitglied des Syndikats American Magic. Ihm ist es zu verdanken, dass das amerikanische Boot nach seinem unkontrollierten Abflug blitzschnell geborgen und repariert werden konnte. Der gelernte Schiffskonstrukteur erklärt, was in nächster Zeit auf Alinghi Red Bull Racing zukommt: «Wir müssen innerhalb kürzester Zeit ein 130-köpfiges Team zusammenstellen und unter einem Dach Lösungen finden, um ein Arbeitsklima zu schaffen, das die Kreativität beflügelt. Gleichzeitig müssen wir uns ständig über neue Vorschriften und Protokolländerungen informieren.» Das Schweizer Syndikat steht vor nichts Geringerem als einem Paradigmenwechsel. Mit dem zehn- bis zwölfköpfigen Team der letzten Jahre hat die neue Organisation rein gar nichts mehr zu tun.

Laut Silvio Arrivabene sind alle Mitglieder des Schweizer Herausforderers bereits «im Rennmodus», das Syndikat verfügt derzeit aber nur über bruchstückhafte Informationen, was die Sache nicht einfacher macht. «Solange wir keine Gewissheit über den Ort und das Datum des Matches sowie über die endgültigen Regeln haben, müssen wir mit vielen Unbekannten arbeiten», verrät er. Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, dass das Boot erst sechs Monate vor dem Showdown im Jahr 2024 eingewassert werden darf. Derzeit legen die drei Co-Direktoren unter der Leitung ihres Präsidenten Ernesto Bertarelli den Rahmen für die Arbeit in den nächsten zwei Jahren und möglicherweise darüber hinaus fest. «Bis Ende Jahr werden wir sämtliche Stellen besetzt haben», versichert Silvio Arrivabene. Ihm kommt die schwierige Aufgabe zu, ein Designteam zusammenzustellen, das in der Lage ist, die schnellste AC75 zu bauen.

Technologische Herausforderung

Die Herstellung der AC75 beschränke sich nicht auf den Bootsbau, erklärt der technische Direktor. Da sei noch viel Mehr im Spiel: «Im Vergleich zu einem herkömmlichen Boot benötigt der Foiler viele hydraulische und elektronische Systeme, die ihn in der Luft halten. Dazu braucht es das Know-how zahlreicher Fachgebiete, die miteinander in Einklang gebracht werden müssen.» Während sich auf den Schreibtischen die Bewerbungen junger, talentierter Ingenieure und Bootsdesignerinnen stapeln, schliesst das Schweizer Syndikat weitere wichtige Partnerschaften. Neben der Unterstützung von Red Bull Advanced Technologies kann Alinghi auch auf die ETH Lausanne zählen, deren Campus weniger als zwei Kilometer von der Décision-Werft entfernt liegt.

Die Einrichtung des Hauptquartiers im Genferseeraum bietet jedoch nicht nur Vorteile, denken wir an den fehlenden Zugang zum Meer und die hohen Arbeitskosten. «Der Rumpf, das Deck und die Schotten müssen zwingend in der Schweiz hergestellt werden», das sei Vorschrift, so Silvio Arrivabene. Andere, kleinere und billigere Komponenten wie Segel, Mast oder Foils dürfen im Ausland produziert werden. Dass die AC75 auf dem Genfersee segeln wird, bleibt wohl Wunschdenken. Und bis wir uns ein Bild der Jacht machen können, dauert es wohl noch mindestens eineinhalb Jahre.

HOMMAGE: IM ANSCHLUSS AN DIE BEKANNTGABE DES COMEBACKS AM 14. DEZEMBER PROJIZIERTEN LASERSTRAHLEN DAS LOGO VON ALINGHI AUF DEN GENFER JET D’EAU.

Sportliche Herausforderung

Die Konturen des Segelteams nehmen nach einem akribischen Rekrutierungsprozess unter der Leitung von Pierre-Yves Jorand und Chefcoach Nils Frei allmählich Gestalt an. Auf der AC75 werden nicht mehr wie beim 36. America’s Cup elf, sondern acht Personen mit einem Gesamtgewicht von 680 bis 700 Kilo segeln. Das Segelteam von Alinghi Red Bull Racing umfasst rund 16 Athleten, die gemäss Nationalitätenregel alle den Schweizer Pass haben müssen. Arnaud Psarofaghis und Bryan Mettraux sind bereits gesetzt. Die anderen Teammitglieder dürften sportlich aus vielen verschiedenen Ecken kommen. «Ein paar von ihnen bilden unsere Power Group», erklärt Pierre-Yves Jorand. «Ihre Aufgabe besteht darin, möglichst viel Energie aufs Boot zu bringen. Wir haben die Daten verschiedener Verbände abgeglichen, um 20 Weltklasseathleten zu finden, die am Ende ihrer Karriere stehen oder sich nach Tokio aus dem Olympiazirkus zurückgezogen haben.» Kajakfahrer, Ruderer und Mountainbiker wurden von Rekrutierungsverantwortlichen genau unter die Lupe genommen, denn sie besitzen genau die Fähigkeiten, die es braucht, um ein Maximum an Watt zu produzieren. Ob mit ihren Armen oder wie zuletzt den Beinen ist noch nicht klar. «Das Profil der ausgewählten Athleten wird in Rücksprache mit dem Designteam festgelegt. Zum jetzigen Zeitpunkt wissen wir nicht, ob wir Grinder, Velos, die mehr Energie erzeugen, aber dafür an Bord mehr Platz brauchen, oder beides einsetzen», so der Sportdirektor. Sicher ist, dass das Team aus erfahrenen Seglern und mindestens zur Hälfte aus Vertretern anderer Sportarten bestehen wird, in denen Kraft und Kondition massgebend sind.

WETTLAUF GEGEN DIE ZEIT: ALINGHI RED BULL RACING MUSS IN WENIGEN MONATEN DEN RÜCKSTAND AUF DIE ANDEREN TEILNEHMER DES 37. AMERICA’S CUP WETTMACHEN.

Obschon die Regeln des 37. America’s Cups die Rekrutierungsmöglichkeiten einschränken, konnten seit letztem Sommer rund 30 TF35- und GC32-Segler getestet werden. «Wir haben uns Zeit gelassen», sagt Jorand. «Jeder Segler wurde in einer Vielzahl verschiedener Situationen beurteilt: an Land, beim Segeln, körperlich und sogar vor der Kamera, um seine Kommunikationsfähigkeit zu prüfen.» Mit diesem Verfahren soll die Crème de la Crème des Segelsports und des Schweizer Sports im Allgemeinen sondiert werden.

Die so ausgewählten Athleten nehmen an zahlreichen Meetings, Schulungen, GC32-Trainings in Mar Menor und an Trainingseinheiten im Simulator teil, damit sie sich mit der AC75 vertraut machen können, bis diese dann «in echt» zur Verfügung steht. Das Protokoll gesteht Newcomern ab dem 17. Juni einen zusätzlichen 20-tägigen Trainingsblock auf dem Wasser zu, den Alinghi Red Bull Racing garantiert nutzen wird. Wie eben bekannt gegeben wurde, hat das Syndikat die von den Kiwis im Jahr 2019 eingewasserte AC75 Nr. 0 Te Aihe erworben. Die Jacht kam zwar nie zum Einsatz, wird dem Schweizer Team aber nach einem Refit, den sie für acht Personen segelbar macht, als Trainingsboot dienen.

Weitere Informationen dürften im Lauf der nächsten Monate tröpfchenweise durchsickern. Man darf aber schon jetzt davon ausgehen, dass die junge Garde bei Red Bull und Alinghi eine gewichtige Rolle spielen wird. An vielversprechenden Nachwuchsseglern fehlt es laut Pierre-Yves Jorand nicht: «Die Schweiz hat enorm viele junge, foilerfahrene Talente. Sie reagieren bei hohem Tempo sehr schnell. Red Bull hat den Youth America’s Cup viele Jahre unterstützt, die Nachwuchsförderung gehört zur DNA unseres Projekts.»

Vom Opti zum America’s Cup

Eines der neuen Teammitglieder ist erst 22 Jahre alt. Nicolas Rolaz hatte 2014 mit seinem WM-Sieg bei den Optimisten für Schlagzeilen gesorgt. Seither ist er sehr erfolgreich in olympischen Klassen, insbesondere im Laser, unterwegs. Trotz seines jungen Alters reagierte er sehr abgeklärt auf seine Verpflichtung: «Ich habe die Nachricht ruhig aufgenommen, habe einen kühlen Kopf bewahrt und bin nicht an die Decke gesprungen. Langsam wird mir aber bewusst, wie gross das Ganze ist und was die Nominierung eigentlich bedeutet. Aus Fairness gegenüber meinen Freunden, die nicht in die engere Auswahl gekommen sind, habe ich mich bedeckt gehalten und bin cool geblieben.» Da Nicolas Rolaz nicht nur ein ausgezeichneter Segler, sondern körperlich auch topfit ist, könnte er auf dem Boot eine Hybridfunktion einnehmen. Nicolaz Rolaz hatte das Konditionstraining bei seiner Olympiakampagne im Übrigen stark aufs Velofahren ausgerichtet. Seine Nominierung ist also keinesfalls dem Zufall geschuldet.

Weitere junge Segler und Seglerinnen werden für den Youth America’s Cup und den Women’s America’s Cup, der auf den derzeit in der chinesischen Werft McConaghy gebauten AC40 ausgetragen wird, rekrutiert. Alinghi Red Bull Racing sollte das erste der beiden bestellten Boote Ende Jahr erhalten. 2023 stehen dann die ersten Qualifikationsregatten auf dem Programm.

Alinghi Red Bull Racing steht noch ein langer, steiniger Weg bevor, das Syndikat kann dabei aber seine langjährige Erfahrung geltend machen. Alle seine Führungskräfte haben bereits mehrere Kampagnen erlebt und wissen, wie man eine solche Herausforderung, die schon fast ans Unmögliche grenzt, anpackt. Obwohl Alinghi Red Bull Racing mit mehreren Längen Rückstand ins Rennen geht, hat es alle Karten in der Hand, um dem Schweizer Segelsport ein unvergessliches Abenteuer zu bescheren. Und Wie heisst es doch so schön: «Aller guten Dinge sind drei!»